(Gebildet; 05-03; S.4)
Funktionalitäten
Der eben geschilderte Zusammenhang galt für
das letzte Jahrhundert.
Es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass sich die einmal erarbeitete
Qualifikation nurmehr für einen Berufseinstieg eignen wird: zunehmend
wird verlangt, sich während des gesamten Erwerbslebens weiter
zu bilden. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Verwerfungen
haben die Pädagogen Karlheinz A. Geißler und Erich Ribolits auf
den Punkt gebracht.
K. A. Geißler verurteilt das von der EU offenbar
präferierte Konzept der "employability" (vgl.
zum Folgenden: Geißler, K. A.: "Employability - das Bildungskonzept
für die Ich-AG" in: Frankfurter Rundschau Nr. 90 vom 16.04.03,
D2-Ausgabe, S. WB 6).
Nach diesem soll es nicht länger um Berufsausbildungen in beschriebener
Form gehen, sondern um Teilqualifikationen, aus denen der Arbeitnehmer
selbstverantwortlich auswählt, um sich in einem ständig wechselnden
Markt zu behaupten: "Berufliches Lernen wird, dieser
Logik folgend, immer enger an den Ort seiner Verwertung verlagert
und ändert sich hierdurch ebenso rasch wie die dort herrschenden
Verwertungsbedingungen. [...] Wissen bekommt dabei Priorität gegenüber
Denken, Information gegenüber Bildung." (ebd.)
Wer sich dabei verspekuliert und auf die falschen Qualifikationen
setzt, hat dann das Nachsehen. Deshalb, so fordert K. A. Geißler,
solle die Politik "nicht ganz so unreflektiert ... von
jenem einst breit anerkannten Bildungsziel Abstand nehmen, in
der Berufsbildung auch jene Fähigkeiten zu entwickeln und zu stärken,
die zum Widerstand gegen die Zumutungen der Arbeitswelt befähigen."
(ebd.)
E. Ribolits stellt eine ähnliche Diagnose (vgl.
Frankfurter Rundschau: "Wer nicht lernt, soll auch nicht
essen" in: ebd.) Auf die Frage des Gesprächsführenden ob
der "kreative Opportunist" gefragt sei, antwortet Ribolits:
"Der Wandelbare, Anpassungsfähige, der seine Persönlichkeit
den jeweiligen Erfordernissen anpasst: unmündig und intelligent
zugleich. Einer, der nur gelernt hat, zu lernen, was ihm aufgetragen
wird." (ebd.) - Es stellt sich die Frage, ob solcherlei
Charakterlose überhaupt eine Persönlichkeit besitzen.
Auf den Einwurf des Gesprächsführenden, dass sich durch Weiterbildung
die Chance ergäbe, einen besseren Job zu bekommen, antwortet Ribolits:
"Für den Einzelnen kann das stimmen. Aber gesamtgesellschaftlich
ändert sich nichts. [...] Es wird nämlich etwas Wesentliches ausgeblendet:
Der strukturelle Wandel besteht im Kern darin, mit immer weniger
Arbeitskräften auszukommen. Mit jeder neuen Technik werden Arbeitsplätze
eingespart. Das ist die Logik dieses Wirtschaftssystems. Selbst
wenn alle Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten
lernen würden, was angeblich gebraucht wird, bleiben welche überzählig."
(ebd.)
Die beiden Pädagogen haben somit auch mögliche
Lösungsansätze aufgezeigt: einen privaten, individuellen, der
letztlich Züge des Sozialdarwinismus annehmen kann oder als Alternative
einen politischen, gesellschaftlichen, der keine großen individuellen
Vorteile ermöglicht, aber eventuell starke gesellschaftliche Verwerfungen
verhindern hilft.
Allerdings sei vor vorschnellem Optimismus bei der zweiten Wahl
gewarnt: Funktionalisten weisen richtiger Weise darauf hin, dass
sich die deutsche Gesellschaft in verschiedene eigenständige Bereiche
differenziert hat, somit keine umfassenden Änderungen von politischen
Akteuren umsetzbar sind. - Dennoch, und darin mag man eine politische
Aufgabe sehen, können sie entsprechende Anstöße geben.
(Ende des Artikels)